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07.03.2014, 12:47 Unsere traumatisierte Generation #1
Hallo, mir wurde vor Kurzem der folgende Artikel empfohlen:Ich selbst habe die in dem Artikel beschriebene “Pädagogische Horrorshow” während meiner Orientierungsstufen-Zeit in Stade (5. und 6. Klasse; seinerzeit gab es dort die Orientierungsstufe als eigenständige Schulform) noch extremer und drastischer erlebt, als sie in dem Artikel beschrieben wird. Nicht nur in Deutsch, sondern auch im Fach “WUK” (Welt- und Umweltkunde), in Religion, Musik und bei jeder Projektwoche wurden wir mit Weltuntergangsszenarien konfrontiert. Wir mussten auch bereits in der 5. Klasse “Das Tagebuch der Anne Frank” lesen und sind bei unserer Klassenfahrt in der 6. Klasse nach Haren an der Ems extra an einem Tag nach Amsterdam gefahren, um das Anne-Frank-Haus zu besichtigen. Da in Stade ein Atomkraft stand, spekulierte ich mit meinen Freunden in den Schulpausen permanent darüber, wann und wodurch der Meiler zerstört werden konnte und wie lange wir dann noch unter welchen Umständen dahinvegetieren müssten. Im Übrigen hatten wir ohnehin das große Pech, seinerzeit von vier Atomkraftwerken “umzingelt” zu sein (neben Stade noch Brokdorf, Krümel und Brunsbüttel).
Alles von Gudrun Pausewang war bei uns Pflichtlektüre, “Damals war es Friedrich”, “Der gelbe Vogel” sowie “Stern ohne Himmel” ohnehin … Die Themen unserer Projektwochen lauteten beispielsweise: “Waldsterben und Greenpeace” oder “Das Elend in der Dritten Welt”.
Hinzu kommt, dass wir zu kleinen Wissenschaftlern erzogen wurden, die selbst mit zehn Jahren bereits “Stern”-Recherchen, Umfragen etc. durchführen mussten. Bei einer Ausstellung am Ende unserer Projektwoche “Waldsterben und Greenpeace”, in welcher uns u. A. vermittelt wurde, dass zehn Jahre später der letzte Baum absterben würde, war mein Vater das einzige Elternteil, welches prinzipiell Kritik an der “Weltuntergangsstimmung”, mit der wir Kinder permanent in der Schule konfrontiert wurden, übte. Zudem äußerte er im Hinblick auf diverse Zeitungsartikel, die unsere Ausstellung zeigte, dass es sehr einseitig wäre, nur gegen das Atomkraftwerk und die sich in Stade angesiedelte Industrie (“DOW CHEMICAL”, “VAW”) zu sein. Man müsse schließlich auch bedenken, dass Stade durch die vielen Steuereinnahmen eine wunderschöne Altstadt habe und die Restauration der zahlreichen Fachwerkhäuser ohne die entsprechenden Einnahmen niemals möglich gewesen sei.
Solche Töne waren jedoch keinesfalls erwünscht. Da mein Vater Diplom-Kaufmann sowie Geschäftsmann war, galt ich bei unseren extrem “linken” Lehrern als Kapitalisten-Tochter, obwohl ich bei allen Projektwochen, weiteren Projekten sowie allem anderen zu den Engagiertesten und den Besten gehörte. Nichtsdestotrotz erhielt ich nach einer solchen Äußerung meines Vaters in “WUK” statt einer 1 (die ich wirklich verdient hätte) nur noch eine 2, während die “Pastorentochter”, die nie ihren Mund aufbekam, aber deren Mutter auch ganz und gar auf der “grünen Welle” schwamm, stets viel zu gute Noten erhielt … Really!
Zwischen zehn und zwölf Jahren war ich der festen Überzeugung, an Brustkrebs zu leiden; oft saß ich abends aufrecht im Bett, malte mir den nächsten Atomkrieg, den SUPERGAU eines uns umgebenden Atomkraftwerks oder sonst ein Horror-Szenario aus … Ich wurde also wirklich durch das, was man mit uns Fünft- und Sechstklässlern gemacht hat, traumatisiert. Wir waren Kinder, die “aufgebaut” hätten werden müssen. Stattdessen wurde uns die überall lauernde Bedrohung tagtäglich eingeimpft. Dieser zu entrinnen, galt als undenkbar … Die Umwelt wurde regelrecht zum feindlichen Terrain …
Als ich mit 26 Jahren zum ersten Mal während meiner Zeit in der Psychoanalyse eine Panikattacke durchleben musste und dadurch letztendlich eine Angststörung entwickelte, wurde “alles” auf meine Eltern und deren schlimme Erziehung “geschoben”. Dass vieles daran alles andere als “gut” war, weiß ich selbst. Allerdings habe ich etlichen Therapeuten auch immer wieder von diesen erschreckenden zwei Jahren an der Orientierungsstufe erzählt, welche ich zumindest für EINE Ursache meiner Angststörung halte. Dies wollte allerdings nie ein Therapeut hören bzw. wissen.
Wer hat in seiner Schulzeit auch furchtbare Erfahrungen mit der “Pädagogischen Horrorshow” gemacht?
Liebe Grüße von Glashaus
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12.03.2014, 12:17 Unsere traumatisierte Generation #2
Hm, meinen Thread haben ja bereits recht viele gelesen, aber trotzdem keinerlei Reaktion … Wahrscheinlich hat es die meisten hier nicht so hart getroffen wie “uns” seinerzeit in Stade. Gott sei Dank! Als meine Freunde und ich in der siebten Klasse auf das Gymnasium kamen, wehte hier bei vielen Lehrern auf einmal ein ganz anderer Wind. Hatten wir es an der Orientierungsstufe ausschließlich mit jungen “extrem linken” Pädagogen zu tun gehabt, so begrüßte uns auf dem Gymnasium im Fach Musik beispielsweise eine recht betagte Dame, die entsetzt darüber war, dass wir an der OS kommunistische Kampflieder gesungen hatten, aber etliche Siebtklässler noch nicht die Noten beherrschten. Und überhaupt: Wir hätten uns ein Beispiel an den “kleinen Japanern” zu nehmen. Diese würden sämtliche Lieder der deutschen Komponisten aus der Periode der Klassik singen sowie spielen können, während wir uns “Yesterday” von den “Beatles” wünschen würden. Unser Klassenlehrer, welchen wir im Fach Deutsch hatten, war allerdings ein Alt-68er. Selbstverständlich standen nun auch Klassiker wie Schillers “Wilhelm Tell” auf dem Programm, aber “Die Welle” wurde beispielsweise nebenbei auch behandelt. Als ich in der achten Klasse war, kam es in Tschernobyl zum sogenannten Super-GAU. Wir mit “unserem” uralten AKW in Stade waren mal wieder betroffener denn je. Marco, mit dem ich bereits während der Orientierungsstufen-Zeit in den Pausen sehr viel über die Zustände “unseres Reaktors” diskutiert hatte, konnte mit neuen Horrormeldungen aufwarten. Bei einem Tagesausflug mit unserer Schulklasse fing es an zu regnen; meine beste Freundin und ich waren panisch, da wir nun vom sogenannten FALL OUT verseucht worden waren. Als ich an diesem Tag nach Hause kam und voller Entsetzen von dem Vorfall erzählte, betrat mein Vater demonstrativ unseren Dachgarten, stellte sich mit nacktem Oberkörper in den Regen, öffnete seinen Mund und trank genüsslich die Tropfen. Die “Panikmache” sei schlimm … Nun, wir Kinder waren schon zu sehr “infiltriert”, als dass wir unseren Eltern noch Glauben schenken konnten. Ich hörte immer wieder die Maxi-Schallplatte: “Tschernobyl. Das letzte Signal vor dem Overkill” von Wolf Maahn, las wenig später Gudrun Pausewangs Buch “Die Wolke” und wünschte mir von meiner Freundin das Buch “Bei Hamburg leichter Niederschlag” zum Geburtstag. Wer zu sensibel war, verschwand: Martin, ein sehr guter Schüler und Sohn eines “rechten” Staatsanwaltes, wurde Mitte der neunten Klasse vom “Wahnsinn” ergriffen und musste in die Landesklinik nach Lüneburg. Der letzte Stand: Martin ist bis heute noch nicht wieder aus seinem “Wahnsinn” zurück gekehrt. Marco litt auf einmal (ohne ersichtlichen Grund) an panischen Versagensängsten bezüglich seiner schulischen Leistungen; sogar seine Stimme versagte ihm auf einmal ihren Dienst. Er verließ unsere Schule nach der 10. Klasse, wechselte auf das sogenannte Puddinggymnasium … Doch auch hier blieb er lediglich einige Monate lang … Nichts ging mehr … Er litt an schweren Depressionen. Mit Mitte 20, als ich ihn das letzte Mal traf, litt er weiterhin an extremen Depressionen, arbeitete hin und wieder bei seinem Vater im Büro … Mehrere Schüler brachten sich um: Ein Mitschüler und Freund meines Bruders erschoss sich, einer meiner Mit-Abiturienten versuchte noch “tapfer” seinen Suizid wie einen Unfall aussehen zu lassen. Sein allzu plötzliches sowie unmotiviertes Ausscheren spricht eine eindeutige Sprache … Die mit Abstand beste Schülerin aus dem Abitur-Jahrgang meines Bruders hat bis zum heutigen Tage ihre Anschrift in der Psychiatrie in Berlin. Peter, einer meiner besten OS-Freunde, stürzte im Alter von 30 Jahren mit seinem Segelflugzeug ab. Auch diesbezüglich bestehen gewisse Mutmaßungen, welche die Version eines Selbstmords wahrscheinlich erscheinen lassen …
Insofern gehöre ich also noch zu den “Davongekommenen” …